Europäische Wochen: Passau hat ein eigenes Nibelungenspiel

Jubel für die Künstler(v.l.): Sopranistin Theresa Pilsl, Dirigent Markus Eberhardt, Sprecher Miroslav Nemec, im Hintergrund das Symphonieorchester des Passauer Konzertvereins. © Edith Rabenstein

Denkwürdiges Experiment: „Kriemhild“ von Enjott Schneider

Kaum eine Uraufführung ist so heiß erwartet worden, wie dieses Nibelungenspiel bei den Festspielen Europäischen Wochen (EW) Passau. Die Dreiflüssestadt lechzt schon seit Jahrzehnten nach einer Produktion, die das mittelalterliche Epos, das um 1200 am Passauer Bischofshof geschrieben worden ist, in einer heute zeitgemäßen Form auf die Bühne stellt. Es war also schon lange der Wunsch der EW, ein eigenes Nibelungenspiel zu etablieren. Denn die Fassungen von Martin Buchners Freilichtspiel von 1912, die auch 1951 und 1959  in literarischer Form über die Bühne gingen, sind  in Sprache und Dramaturgie völlig überholt.

Hohe Erwartungshaltung

Intendant Dr. Carsten Gerhard hat diesen Wunsch jetzt in die Tat umgesetzt. Die Eröffnung der 71. Festspiele wurde gekrönt durch „Kriemhild“, ein sinfonisches Spiel zum Nibelungenlied in 33 Bildern von Enjott Schneider. Grundlage war die Textfassung des Epos von Karl Simrock. Die Erwartungen waren also hoch, vielleicht zu hoch.

Aber: Schon im Vorfeld der Aufführung war zu vernehmen, dass ein Großteil des Publikums das mittelalterliche Epos nur durch die Figur des heldenhaften Siegfried kennt – und dessen romantische Rezeption, wie sie in Filmen der 60er- und 70er Jahre gezeigt wird. Etliche Besucher äußerten noch beim Empfang der bayerischen Staatsregierung in der Dreiländerhalle, der zwischen der feierlichen Eröffnung und dem Konzert am Abend lag, dass für sie das „Nibelungenlied“ mit dem Tod des Drachenbezwingers Siegfried durch den bösen, finsteren Hagen endet. Ein Teil des Publikums ist offensichtlich mit falschen Erwartungen in das Nibelungenspiel gegangen. Denn: Ab der 20. Âventiure hat das „Nibelungenlied“ mit dem Rachefeldzug Kriemhild einen anderen Duktus. Ab da ist Kriemhild, die Gattin Siegfrieds, die Drahtzieherin.

„Die Nibelungen“ – das ist keine heitere „Landshuter Hochzeit“ im Mittelalter-Gewande, die übrigens ebenfalls an diesem Wochenende Premiere hatte.

Düstere Geschichte in Moll

Ideengeber Carsten Gerhard und Komponist Enjott Schneider stellten Kriemhild als Titelheldin in den Mittelpunkt. Damit war der Plot schon vorgegeben: Es ist die Tragik einer Frau, die liebt und deren Familie ihr den Liebsten nimmt. Seitdem kennt sie nur Leid, Trauer und Rache. Die Möglichkeit, die Rachegedanken in die Tat umzusetzen, gibt ihr die Hochzeit mit Hunnenkönig Attila.

Es ist also eine düstere, traurige Geschichte, die in Tod und Untergang endet. Durchgehend in Moll, schwermütig, düster und doch vielfarbig war die Musik von Enjott Schneider, die live auf der Bühne vom Symphonieorchester des Passauer Konzertvereins unter Markus Eberhardt musiziert wurde. Dazu kam noch ein ebenfalls vom Komponisten entworfenes Sounddesign, das von Friedrich M. Dosch eingespielt wurde. Mehreres war da erstaunlich. Der Dirigent verstand es, die über 70 Musiker (einschließlich der Verstärkung durch Streicher der Nationalen Kammerphilharmonie Prag) kompakt zusammenzuhalten, denn es sind zum großen Teil Laienmusiker! Die Einsätze waren durchwegs präzise und auch die Übergänge zu den Sounddesigns klappten. Beeindruckend: die Schlagwerker und die verschiedenen Streichergruppen. Der Konzertverein kann stolz sein, diese anspruchsvolle Komposition bravourös  bewältigt zu haben.

Die Sounddesigns waren von der Klangsprache interessant: Da wurden exotische Klänge von der „morin chuur“, einer mongolischen Pferdekopfgeige, von einem mittelalterlichen Hackbrett und von mongolischem Kehlkopfgesang hörbar, ebenso trafen Falkenschreie, Waldgeräusche, Feuerlodern, Schwerterklingen, Pferdegetrampel und immer wieder Kampfgeräusche das Ohr. Schneider ist ein erfahrener Filmkomponist und weiß dramatische Höhepunkte zu setzen.

Sounddesigns waren zu laut

Und doch: Geschuldet den vielen Kämpfen in der literarischen Vorlage gibt es zu viele musikalische Redundanzen. Der Stoff hätte deutlich gestrafft gehört. Was aber am meisten störte: Die technischen Einspielungen waren zu wenig auf die live-Protagonisten abgestimmt. Der kommentierende Chor ging – zumindest von meinem Platz aus so gehört – oft unter. Zudem hätte man die Texte des Chores als Übertitelung mitlaufen lassen können. Hätte das Sounddesign da nicht nachgebessert werden können, zumal sich in der Pause viele an dieser Tatsache störten.

„Tatort“-Kommissar Miroslaw Nemec sprach einen Epilog als Wolfger von Erla. © Edith Rabenstein

Sogar der sehr deutlich artikulierende und mit Mikroport verstärkte Miroslav Nemec wurde teilweise zugedeckt. Der „TV-Kommissar“ war in der Sprecherrolle brillant – zurückhaltend in der Beobachterposition, verschieden modulierend, wenn er Personen auferstehen ließ. Dass er am Ende als „Auftraggeber“ Wolfger von Erla noch einen Epilog sprach, rundete das Geschehen ab.

 

Großartige Theresa Pilsl

Das Leid der „Kriemhild“ machte Sopranistin Theresa Pilsl eindringlich fühlbar. © Edith Rabenstein

Das letzte Wort aber hatte Kriemhild: „Ich will meiden die Liebe, ich will meiden das Leid“.  Da ist er wieder – der Falkentaum. Sopranistin Theresa Pilsl war in der Titelrolle großartig. Sie durchlebte die Freude über ihren Helden und durchlitt den Schmerz, den ihr der Mord an ihrem Mann zufügte. Wie die Sängerin das Leid der Krimhild am Ende des ersten Teils heraus schmettert, schreit, flüstert – das ist so ergreifend, das jagt Schauer über den Rücken, so dass man sich gar nicht in den Pausentrubel stürzen will. Theresa Pilsl hat diese Partie wunderbar ausgestaltet. Harfenistin Laima Bach gab der Figur eine weiche Seite.

Konzert mit Videokunst illustriert

Eine schöne Idee war es, den konzertanten Abend mit Bildern der Videokünstlerin Sophie Lux zu illustrieren. Sie arbeitete eng am Inhalt des „Nibelungenlieds“, von den Bildern zum Falkentraum, fahlen Mondnächten, Reptilschuppen und dem Zug der Hunnen bis zum Inneren des Passauer Doms, der mit dem Einzug Kriemhilds in Passau verbunden war – die einzige Stelle in der Komposition, die mit Dur ausgestattet war.

Am Ende gab es Jubel und Standing Ovations von den rund 1000 Zuschauern in der Dreiländerhalle. Es war auf alle Fälle ein denkwürdiges Experiment. Ob und wie es weitergeführt werden kann, wird man sehen.

„Es ist ein Spiel von, aus und für Passau“, sagte Intendant EW-Carsten Gerhard zu Beginn der Veranstaltung. In der Nibelungen-Rezeption der Dreiflüssestadt haben sich „Kriemhild“ und alle Beteiligten jedenfalls schon jetzt einen historischen Platz gesichert.