documenta 15: Viel für den Kopf, wenig für die Sinne

Dan Perjovschi gestaltete die Säulen am Fredericianum. © Edith Rabenstein

Ausstellung will gesellschaftlichen Diskurs und lässt die Ästhetik außen vor

 

Die documenta hat in ihrer 15. Ausgabe den von ihr formulierten Anspruch, die „größte Kunstausstellung der Welt“ zu sein, 2022 nicht erfüllt. Vielleicht von den Räumlichkeiten her gesehen, das sind 32 Standorte in Kassel mit über 30 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche, aber nicht von der künstlerischen Qualität.

Eröffnung durch den Bundespräsidenten

Am Samstag wird die Ausstellung von Bundespräsident Walter Steinmeier eröffnet. Zuvor hatten Presse und Fachpublikum Gelegenheit, die Ausstellung zu besuchen.

„Kunst ist die Kooperation“ heißt es heuer in Kassel. Die documenta 15 ist ein Forum von politischen Diskussionen – geworden, aber ohne große ästhetische Relevanz. Ja, man kann in vieler Hinsicht nicht einmal von Konzeptkunst sprechen, denn es bleibt nur beim Konzept.

Kuratoren Ruangrupa

Ruangrupa, frei übersetzt „Kunstraum oder „Raumform“, das Kuratorenteam aus Jakarta (Indonesien) hat in ihrer Heimat die Bildungsinitiative Gudskul gegründet und ist ein Organisationsteam, das verschiedene Projekte durchführt, u. a. Festivals und Ausstellungen. Dabei geht es im hehre Ziele wie Nachhaltigkeit, Ökologie, Ressourcenverteilung.  Schön und gut. Mit diesen Themen hat die documenta kein Alleinstellungsmerkmal, war das doch auch das Thema der Weltausstellung in diesem Frühjahr in Abu Dhabi unter dem Titel „Connecting minds, creating the future“. Wer dort war, empfindet die documenta in einigen Punkten als müden Abklatsch.

Die Idee einer gemeinsamen Reisscheune

Verbunden soll auf der documenta auch viel werden, das zeigt schon das Logo mit den bunten Händen, die nach einander greifen, abwehren, aber auch den Zeigfinger erheben. Über 1000 Menschen waren und sind an dieser documenta beteiligt. Die Idee des „lumbung“, einer gemeinschaftlichen Reisscheune, in der man sich die Ernte teilt, schwebt über allem. Dies allein macht schon deutlich, dass der „Süden der Welt“, wie es die Generaldirektorin der documenta, Dr. Sabine Schormann, pauschal nennt, ganz andere Sorgen und Beweggründe hat als der sogenannte Norden. Der Blick von außen ist freilich nicht verkehrt. Die Welt neu denken auch nicht.

Nicht das Ergebnis zählt, sondern der Prozess

Diese documenta ist ein Gegenentwurf zu unseren europäischen Erwartungen. Nicht das Ergebnis zählt, sondern der Prozess. Deshalb wird sich die Schau während der 100 Tage Laufzeit auch verändern. Deshalb ist sie aber für den Besucher auch schwierig, denn er erwartet Ergebnisse, die hier nur zum Teil geliefert werden.

Ein paar Beispiele

Was aber ist zu sehen? Viel Theoretisches verschiedener Kollektive, deren Arbeitspapiere grafisch ganz gut wirken, aber genügt das?  Die Kuratoren wussten offensichtlich sehr wohl, dass das nicht genügt. Deshalb haben sie auch mehr oder weniger bekannte Künstler zur documenta eingeladen. Der im internationalen Kunstmarkt –  den ruangrupa allerdings ablehnt – bekannteste Künstler dürfte der Rumäne Dan Perjovschi sein. Der Zeichner (Jahrgang 1961) aus Sibiu hat die Linie, das plakative Signet, das Wort und die Zahl als grafisches Element und semantisches Zeichen eingesetzt. Seine zeichnerischen Kommentare sind ironisch und witzig. Er war bei sämtlichen großen Biennalen dabei, hat im MoMa in New York und der Tate Gallery in London ausgestellt. Er durfte die ionischen Säulen am Fridericianum gestalten. Gedanken zum Frieden Weiß auf Schwarz. Schwarz auf Weiß ist dagegen seine „horizontale Zeitung“ vor dem Kuturbahnhof. Da geht es dann schon auch um Corona oder Fußball und Lewandowski.

Erick Beltrán und sein Projekt zur Macht. © Edith Rabenstein

Weitere Namen, die man aus dem Kunstbetrieb kennt: Der Mexikaner Erick Beltrán, der sich mit neuen Perspektiven zur Macht  beschäftigt. Ausstellungsort ist das Museum für Sepulkralkultur. Oder die in Berlin lebende und arbeitende Pina Ögrenci, die mit einer Installation aus handgenähten Papiertüchern auf den türkisch-kurdischen Konflikt aufmerksam machen will. Ihre Arbeit ist im Hessischen Landesmuseum zu sehen. Sowohl auf der aktuellen Biennale in Venedig wie auch auf der documenta in Kassel ist die polnische Künstlerin Malgorzata Mirga-Tas mit großformatigen Wandteppichen („Out of Egypt!) vertreten, die Geschichten erzählen.

Story-Telling aus Indonesien

Agus Nur Amal Pmto und seine Performance im Auestadion. © Edith Rabenstein

Ein Künstler aus Indonesien, der sofort das Publikum in den drei Tagen der Vorbesichtigung für sich einnahm, ist Agus Nur Amal Pmtoh. Er baut witzige Installationen, die in dem Ausstellungsort Grimm Welt zu sehen sind, und ist ein Geschichtenerzähler. Story-Telling, das eine Art Sprechgesang ist, gehört zu den Traditionen seiner Heimat. Ich hörte die Geschichte des Flusses Fulda, an den die Kinder Kassels verschiedene Fragen stellen.

Ein interessantes Videoprojekt präsentiert  Kiri Dalena über Gewaltherrschaft und Unterdrückung auf den Philippinen im Hübner-Areal.

Richard Bell

Richard Bell zeigt bunte, fast fotorealistische Malerei zum langen indigenen Kampf gegen australischen Siedlerkolonialismus im Fridericianum. Davor gibt es eine Zeltinstallation zu diesem Thema.

In Fridericianum gibt es auch einen Einblick in die  Sammlung aus den „Black Archives“, die in Amsterdam über 10 000 Bücher, Zeitschriften und andere Materialien sammeln. Eine beeindruckende Inszenierung.

Wajukuu Art Project

Ready-Made Skulptur aus Messern. © Edith Rabenstein

Zu den bildmächtigsten Arbeiten gehören die von Wajukuu Art Project aus den Slums von Nairobi: die Ready-Made Skulptur aus Messern zeigt, wie ein Alltagsgegenstand zum Kunstmaterial erhoben werden kann. Besonders bemerkenswert: Zwei riesige menschliche Figuren, die in einem Netz wie Fische in der Reuse gefangen sind. Diese Werke stehen in der documenta-Halle.

Die Posterkünstler Taring Padi, die wie die Kuratoren aus Indonesien kommen haben Hunderte Pappfiguren, die von ihnen selbst, von Schulkindern und in Vereinen bemalt wurden vor der documenta-Halle aufgestellt.

Müll-Projekt in der Karlsaue

Projekt „Return to sender“ in der Karlsaue. © Edith Rabenstein

Die Karlsaue wird ebenfalls bespielt: Der „Komposthaufen“ hätte vermutlich Joseph Beuys gefallen . . . Ein Werk von Nest Collektive aus Nairobi sticht besonders ins Auge: „Return tot he sender“  ist eine begehbare Installation, die aus Stoffballen besteht. Davor liegt Elektro- und Plastikmüll. Ein Film zeigt, wie der Transport unseres Wohlstandsmülls in die Länder des Südens dort zur Zerstörung von Umwelt und Ökonomie beitragen.

Man glaubt bei vielen Ausstellungsprojekten ein Desinteresse oder Unbehagen an der Kunst zu spüren, vor allem aber an den Marktgesetzen der Kunst. Aktivismus geht vor Ästhetik.

Soll man zu dieser documenta fahren? Ja, denn sie bietet auf alle Fälle eine Horizonterweiterung, zeigt auf, wie Menschen auf anderen Kontinenten mit dem Begriff Kunst umgehen. Der ist weit weg von der europäischen Tradition, von unserem gelebten und geliebten Genie-Begriff und der Individualität der Künstlerpersönlichkeit.

Ob die Schau, aus der ich nur einige Arbeiten herausgepickt habe und quasi einen Leitfaden für Besucher geben will, gefällt oder nicht, wird letztlich vom Erwartungshorizont des Einzelnen abhängen.

Was mich an dieser documenta stört: Sie bietet viel abstrakte Theorie und politischen Aktivismus, aber wenig Sinnlichkeit und Lebensfreude. Und genau dies habe ich persönlich vom „globalen Süden“ eigentlich erwartet.

Auch mehr Professionalität bei der Beschriftung kann man bei einer solch teuren Ausstellung erwarten. 42,2 Millionen Euro sind das Budget. Die textlastigen Objekt-, Projekt-, oder Werkbeschreibungen sind so weit unten angebracht, dass man sich bücken oder in die Knie gehen muss, um an die Infos zu kommen. Ein Zugeständnis an Rollstuhlfahrer? Dabei könnte man es wie andere Ausstellungen machen und dieser Besuchergruppe ein Handout mitgeben. Außerdem: Häufig ist unklar, welches Schild wohin gehört. Zudem die Piktogramme der einzelnen Veranstaltungsorte sind sich sehr ähnlich. Das erschwert die Orientierung.

Der Kommentar einer Besucherin beim Betrachten eines Plakats mit dem Titel: „Curators, go Home“: „Das hätten sie mal selbst berücksichtigen sollen“ ………