Schwul und Computernerd: „Ich bin eine Insel!“

Im Kopf von Turing (v.l.): Martin Platz (Titelfigur), Mykhailo Kushlyk (Arnold), Andromahi Raptis (Madame KI) und Chor. © Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg

Uraufführung: „Turing“ am Staatstheater Nürnberg

 

Das Staatstheater Nürnberg traut sich was: eine Uraufführung über einen Menschen, den kaum einer kennt, mit zeitgenössischer Musik, die alles andere als zeitgenössisch anmutet. Mit viel Klischees und Amüsement – und das obwohl es um einen Computernerd geht, der schwul war und sich umbrachte.

Oper von Anno Schreier, Text von Georg Holzer

„Turing“ heißt die Oper, die am Samstagabend in Nürnberg Premiere hatte – mit dem Text  von Georg Holzer (Chefdramaturg am Haus) und der Musik von Anno Schreier. Den Komponisten kennt man von seinen Musiken „Hamlet“ und „Schade dass sie eine Hure war“. Im Text begegnet man einigen Zitaten von Oscar Wilde.

Turing dekodierte Hitlers „Enigma“  Im Mittelpunkt steht eine historische Figur: der Mathematiker Alan Turing) (1912-1954, der an der Entwicklung der ersten Computer beteiligt war und das Konzept der künstlichen Intelligenz entwickelte. Während des Zweiten Weltkriegs knackte er die deutschen Codes („Enigma“) und verkürzte den Zweiten Weltkrieg damit vermutlich um Jahre.

14 Szenen und fünf Instrumentalstücke

In 14 Szenen mit  fünf Entre-Scène-Musiken (Instrumentalstücke, die Turingmaschinen genannt werden) läuft der Abend teilweise sehr schnell ab. Intendant und Regisseur Jens Daniel Herzog liefert kein tiefsinniges Psychogramm, sondern das Eintauchen in einzelne Lebenssituationen, auch wenn das beeindruckende Bühnenbild (Mathis Neidhardt) suggeriert, dass wir uns in Turings Kopf befinden. Freilich vom Leiden und Sterben des Autisten erfahren wir wenig, eher davon wie die Umwelt auf den genialen Forscher reagiert, der mehrfach sagt: „Ich bin eine Insel!“ Wohlgemerkt: eine Insel, die nicht erreicht werden will – und die auch niemand erreichen will.

Martin Platz als umjubelte Titelfigur

Die Hauptfigur fällt und steht mit ihrem Darsteller. In dem jungen lyrischen Tenor Martin Platz, Ensemblemitglied, ist Turing ideal besetzt und wurde mit Recht bejubelt. Er lässt sich auf die Zerrissenheit des Forschers ein und verleiht ihm eine Art kindliche Naivität, die dem Stück eine Leichtigkeit gibt, dass man die tragische Komponente der Figur fast vergisst.  Eine witzige Idee ist es, die Künstliche Intelligenz zu personalisieren: Sopranistin Andromahi Raptis  gibt Madame KI ein markantes Profil. Sie betont die Schärfe in ihrer Stimme.

Churchill als Karikatur

In weiteren Rollen: Sopranistin Emily Newton als warmherzige Joan, Bariton Wonyong Kang als arg nüchterner Kollege, Mezzo Almerija Delic wenig überzeugend als Mutter, Bariton Mykhailo Kushlyk als witziger und lebensbejahender Krimineller, mit dem Turing eine Affäre beginnt. Und weil im England der Nachkriegszeit die bekannteste Figur Churchill war, darf der auch nicht fehlen: Bass Nicolai Karnolsky gibt ihn als Karikatur – und hat die Lacher auf seiner Seite.

Auch die Kostüme (Sibylle Gädeke) sind Retro und erinnern – very british – an die Nachkriegszeit in UK.

Musik war größte Überraschung

Die größte Überraschung war aber wohl die Musik. Anno Schreier, 1979 in Aachen geboren, schuf eine wilde Mischung von Minimal Music, Disco-Beat und Sound der 1960er-Jahre, Leonard Bernstein war ebenso rauszuhören, wie Jazzelemente und elektronische Tanzmusik. Die gut disponierten Philharmoniker unter der Leitung von Guido Johannes Rumstadt wurden ergänzt durch zahlreiche Perkussionsinstrumente und Synthesizer. Der Komponist hat sehr reduziert auf dem Computer komponiert und dann die Komposition erst auf das große Orchester erweitert, wie er in einem Interview sagte. Ein Lob gilt dem guten und textverständlichen Chor (Einstudierung: Tarmo Vaask) , was bei einer Uraufführung besonders wichtig ist. Besonders beeindruckten die „Turingmaschinen“, die sich mit unterschiedlicher Dynamik sehr von der übrigen Komposition abhoben.

Apple lässt grüßen

Am Ende beißt der geniale Mathematiker, der wegen „grober Sittenlosigkeit“ zu Zuchthaus und zu einer Östrogentherapie verurteilt wurde, in einen Apfel, den er vergiftet hat.  Apple lässt grüßen.

Charakterstudie oder Psychogramm ist „Turing“ nicht zu nennen, eher ein Opern-Biopic mit vielen unterhaltsamen Elementen und mit Tendenz zum Musical. Mit „Turing“ hat das Staatstheater gepunktet!

Weitere Vorstellungen: 30.11.,  11.12., 15.1. 2023, 31.1., 5.2., 12.2.

Telefon: 0180/1-344-276

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